Donnerstag, 8. Dezember 2011


Eiskristalle

Einer Erinnerung aus meiner Kindheit...

An einem Sonntagmorgen Ende November, stahlblauer Himmel aber fünfzehn Grad Kälte, wurde ich von meinem Großvater abgeholt. Er wolle mit mir einen Spaziergang unternehmen.

Bereits beim Aufstehen konnten wir an den Fenstern in unserem Kinderzimmer die schönsten Eisblumen bewundern. Ein weißlicher Hauch, blau hinterlegt vom Himmel, aus den allerschönsten Mustern komponiert. Eisblumenzauber in höchster Vollendung, von der Natur geschaffen. Eine Kombination aus unserer nächtlicher Ausdünstung und kalter durchgefrorener Fensterscheiben, zusammengesetzt aus lauter kleinster und feinster Eiskristalle. Wir Kinder konnten uns nicht genug satt sehen an diesen Blumen- und Blattmustern. Wenn wir diese dann aus nächster Nähe betrachteten, brachte unser warme Atemhauch diese Gebilde langsam zum schmelzen, um dann, wenn wir wieder ein wenig Abstand nahmen, gleich wieder welche entstehen zu lassen. Dieses Spiel konnten wir an solch kalten Tagen fast beliebig lang spielen, waren doch die beiden Fenster nach Norden und Westen orientiert, daher nur kurz von der Nachmittagssonne gestreift. Durch die vom Wohnzimmer her geöffnete Türe konnte das Zimmer tagsüber beheizt werden, so zogen sich dann jeweils die zarten Eiskristallgebilde bis fast an den Rand der Fensterscheibe zurück, um dann in der Nacht aufs schönste wieder aufzublühen.

Gut eingepackt, mit Schal, Handschuhen und dicker Wollmütze bekleidet, machten wir uns auf den Weg. Schnee war wenig vorhanden, die Straßen und Wege aper. Aber die Bäume, die Zäune, ja sogar die Telefonleitungen waren mit einen dicken Eis-kristallschicht ummantelt. Ein Anblick, der zusammen mit dem tiefen blau des Himmels wie im Märchen aussah. Jedenfalls stellte ich mir so eine Märchenlandschaft vor. Dem Waldrand entlang steigerte sich das Bild dieser dick über- zuckerten Eiskristallgebilde, das sich in der Nacht über die Sträucher und Hecken gezogen hatte. Die Tannen, ja die ganze Landschaft sahen aus wie frisch verschneit. Da und dort ragten in den Wiesen aus dem eher spärlichen Schnee Grashalme, einzeln oder in ganzen Büscheln, steif gefroren und ebenfalls weiß überzuckert.

Gesprochen hatten wir nicht viel. Das unendlich schöne dieses Wintermorgens zog uns zu sehr in seinen Bann. Großvater versuchte mir dieses Phänomen der Eiskristallbildung zu erklären, ich konnte mir aber zu der Zeit überhaupt nicht vorstellen, wie so etwas entstehen kann. So verblieb es in mir als Vorstellung eines Zaubers, der mich heute noch in seinen Bann zieht, wenn ich Eiskristallgebilde in der Natur draußen betrachten kann. Eisblumen zu entdecken ist leider eher schwierig geworden. Aber wenn ich einmal ein solches Fenster entdecke, dann spiele ich das Spiel mit dem warmen Atemhauch.

 © Hans-Peter Zürcher