Donnerstag, 29. Dezember 2011


Die verborgenen Stunden der Sonne

...oder Gedanken an einem kalten Wintertag

Wer Lust zu lieben hat, steht von den Toten auf, denn nur wer liebt, ist lebendig.

Robert Walser

Vor vielen Jahrhunderten, Jahrtausenden, fragten sich die Menschen, was geschieht mit der Sonne, wenn sie untergeht. Die Menschen fragten sich, was kommt nach dem Tod. Auch heute noch stellen wir uns immer wieder diese Frage, was kommt nach unserem Tod. Heute wissen wir, dass die Sonne am anderen Morgen wieder aufgeht, die Sonne, die uns am Leben erhält. Alles Leben hat seinen Kreislauf, also, so fragen wir, warum soll es also nach unserem Ableben auf dieser Erde für uns nicht weiter gehen.

Alles hat seinen Kreislauf. Die Erde ist rund. Tag und Nacht sind eben so in einen Kreislauf gebunden wie Ebbe und Flut, wie die vier Jahreszeiten, die uns deutlich und klar vor Augen führen, wie im Frühling immer wieder neues aus altem entsteht, im Sommer sich alles üppig auslebt um sich dann im Herbst aufs Vergehen vorzubereiten, dass sich dann alles über den Winter in sich ruhend aufs Neue im Frühjahr vorbereiten kann.

Dieses System des immerwährenden Wiederkehrens ist leider immer mehr gefährdet. Seit es dem Menschen gelungen ist, sich in diesen Kreislauf, bewusst oder unbewusst, einzumischen, wird dieser Kreis immer mehr aufgebrochen und verwandelt sich unaufhörlich in eine unendliche Gerade des Vergehens. Unwiderruflich wird dadurch der Kreislauf durchbrochen und alles das zerstört, was diesen am Leben hält. All das wird letztendlich auch den Menschen selbst endgültig zum erlöschen bringt.

© Hans-Peter Zürcher

Montag, 26. Dezember 2011


Ein Jahrbuch...

Oder Gedanken zum Jahresausklang

Das alte Jahr geht bald zu Ende. Wir schließen einen weiteren Band im Lebenszyklus dieser Welt. In einem einst sauberen, unbefleckten Jahrbuch sind wieder viele, viele Seiten gefüllt worden. Beschrieben mit Blut und mit Tränen, verkleckst mit unzähligen Gewalttaten an Mensch, Tier und Natur.

Wir beginnen bald mit einem neuen Jahr, schlagen ein neues Buch auf, wieder ist es ein reines unbeflecktes Buch, ein neuer Band im Lebenszyklus dieser Welt. Ebenfalls eröffnen wir ein neues Kapitel in unserem eigenen Lebensbuch.

Ein neues Jahrbuch aufzuschlagen ist wunderbar, denn all seine leeren Seiten sind rein, weiß und unbefleckt. Weiss wie Frieden. Möge die Menschelt die Chance nutzen, dass dieses neue Jahrbuch rein weiß und unbefleckt bleibt und wunderbare Geschichten von Frieden und Wohlergehen für Alle eingetragen werden...

Ein neues Kapitel in unserem Lebensbuch aufschlagen, ja, ich denke so rein und weiß die Seiten auch aussehen, täuscht. Die Seiten sind voll geschrieben mit unsichtbarer Tinte, dessen Inhalt nur langsam mit den gelebten Tagen sichtbar wird. Die letzten Worte im letzten Kapitel werden wir dann dereinst nicht mehr lesen können. Zwischen all den bereits vorgeschriebenen Zeilen findet sich aber noch viel Freiraum, den wir mit unserer Lebenseinstellung und unserer Lebensweise beschreiben können. Hier müssen wir besonders achtsam sein. Denn schnell hinterlassen wir Kleckse, die wir nicht mehr ausradieren können. Füllen wird diesen Freiraum doch mit Liebe, Wertschätzung, Anstand und all dem, was das Leben unserer Mitmenschen, der Natur und letztlich ja auch unser Leben positiv beeinflussen kann....

© Hans-Peter Zürcher

Sonntag, 18. Dezember 2011


Für einen Augenblick nur

Einer Erinnerung aus meiner Kindheit...

Ein Augenblick kann unendlich lang sein, wenn man etwas erwartet, das seit Tagen, ja sogar seit Wochen angekündigt wurde. So ein Augenblick war es damals, als wir Kinder am Heiligabend in der kleinen Stube auf die Ankunft des Christkindes warten mussten. „Es dauert nur noch einen kleinen Augenblick“ meinte unsere Mutter, als Vater in die schöne Stube verschwand. Diese war schon den ganzen Tag als verbotene Zone deklariert worden, streng geheim und abgeschlossen. Alle Jahre wieder dasselbe Ritual, und doch war es für uns immer wieder eine hoch spannende Angelegenheit, die Warterei auf das Christkind...

In der ersten Dezemberwoche waren wir jeweils mit dem Basteln eines Wunschzettels beschäftigt. Mit dem Schreiben alleine war es nicht getan, nein, es musste etwas besonderes sein. Es musste ein Wunschzettel sein, der dem Christkind Eindruck machte, so dass all unsere Wünsche in Erfüllung gehen sollten. Der Wünsche waren wir voll und etwa gar nicht bescheiden. Denn immer wenn wir durchs Jahr hindurch einen ausgefallenen Wunsch äußerten, hieß es: „da müsst ihr schon noch ein bisschen warten bis das Christkind kommt.“ Also wurde gezeichnet, geklebt und gebastelt was das Zeugs hält. Und dann, eines Abends war es so weit, Großvater meinte, dass genau an diesem Abend das Christkind hier vorbeifliegen werde, wir sollen jetzt unsere Wunschzettel vor das Fenster legen, am besten vielleicht hier vor das Küchenfenster. „Es dauert nur noch einen kleinen Augenblick, seid ja still, ruhig und artig“, meinte Großvater. Natürlich war dieser Augenblick zu lange für uns Buben. Ich fragte, und das nicht gerade leise, wenn es denn nun endlich käme. „Scht...“ mahnte Großvater. Es nutzte nichts, Mutter rief aus der Stube etwas von Christkind und dass es soeben sich am Stubenfenster gezeigt hätte. Wir stürmten in die Wohnstube ans Fenster, aber es war weit und breit nichts von einem Christkind zu sehen. Oder doch? das lag doch draußen etwas auf dem Sims. Schokoladen, zwei Weihnachtsschokoladen! in farbiges Stanniolpapier verpackt, mit einem in ganz weiß bekleideten, blonden Engel. „Ein Zeichen vom Christkind“, sagte Großvater und schmunzelte vor sich hin. „Und unsere Wunschzettel?“ fragte mein kleiner Bruder. Gleichzeitig rannten wir ans Küchenfenster. Weg, sie waren tatsächlich weg.

...Auch an diesem Heiligabend dauerte der kleine Augenblick eine Unendlichkeit. Daran sollten wir Buben eigentlich gewohnt sein, dies wiederholte sich ja alle Jahre auf dieselbe Weise, dieses Augenblickritual. Das Weihnachtsglöcklein klingelte auch alle Jahre auf dieselbe Weise und der Baum sah auch alle Jahre gleich aus. Und trotzdem, es war immer wieder ein großes Ereignis für uns, dieser kleine Augenblick, der uns dem Fest entgegenfiebern ließ und der nie enden wollte.

© Hans-Peter Zürcher


Ein besinnliches, frohes Weihnachtsfest
wünscht Euch
Herzlichst Hans-Peter Zürcher 

Freitag, 16. Dezember 2011


Eine kleine Adventgeschichte

Ein trüber und kalter Adventsonntag war es damals anfangs Dezember. Am Nachmittag fuhr Peter mit der Straßenbahn aus der Innenstadt dem Bahnhof zu. Die Fensterscheiben waren beschlagen, da und dort sah man aber durch frei gewischte Löcher hinaus. Die Straßenlaternen beleuchteten mit gelblichem, warmem Schimmerlicht die Gehsteige und die Straßen, die weiß glitzernd mit Schnee bedeckt waren. Das Treiben in den Straßen und Gassen wie auch in den Geschäften war eher gemächlich. Keine Hektik, wenig Leute, ein eher ruhiger erster Verkaufssonntag im Dezember. Leise rieselte Schnee aus dem mit dicken dunklen Wolken verhangenem Himmel. Das Rumpeln des alten Straßenbahnwagens wurde durch den Schnee gedämmt. Trotz geschlossener Fenster fühlte Peter einen kalt einströmenden Luftzug, der ihn frösteln ließ, dessen die großen Elektroheizkörper unter den hölzernen Sitzbänken nicht wettmachen konnten. Er schlug seinen Mantelkragen hoch und verschob sich auf der Sitzbank gegen den Mittelgang hin. Im Wagen befanden sich nur wenige Passagiere, denn es war noch früh am Nachmittag. Im schräg gegenüberliegenden Abteil entdeckte er einen Teddybären, der verlassen auf der Holzbank saß und lustig im Takt der holpernden Straßenbahn wackelte. Ja, es war schon etliche Jahre her, da hatte er auch einen solchen Bären, der ihn immer und überall hin begleitete. –Wer mag den wohl vergessen haben, muss wohl sehr traurig sein, das Kind-. Er stand auf und setzte sich dem Bären gegenüber. „Na, kleiner, wer hat dich denn da einfach sitzengelassen“. Der Teddy blieb stumm, blickte Peter aber mit großen, dunklen, leuchtenden Augen an. Graubraun, war er, mit einem liebevoll gebunden, schützenden Schal um den Hals. Schließlich war es ja Winter und wer kuschelt da schon gerne mit einem Teddy der erkältet war. Als an der Endstation am Bahnhof die wenigen Passagiere ausgestiegen waren und sich niemand um den kleinen Bären gekümmert hatte, nahm ihn Peter beherzt auf, streichelte ihm liebevoll über den Kopf und sagte zu ihm: „wenn du willst, nehme ich dich mit in mein warmes Stübchen, dann musst du wenigstens nicht frieren und bist nicht so alleine. Weißt, ich hab zu Hause meinen Mutzli, den kleinen Bären, der mich durch meine Kindheit begleitet hatte“. Er kippte ihn kurz nach hinten und zurück. „Mö ööö “ war seine Antwort, das soviel hieß wie ja gerne.....

Seither sind gut vierzig Jahre vergangen. Peter war mit dem Zug unterwegs nach Hause. Ein Werktag war es im November. Seine Nachbarin Yvonne mit ihrer Enkelin war ebenfalls im Zug. Die Kleine hatte ihren Teddy, der stark verknutscht und lädiert aussah, mit dabei und spielte mit ihm während der Fahrt. Sie setzte ihn auf den freien Sitz gegenüber und plauderte mit ihm drauf los. „Pass ja gut auf ihn auf, Vreneli“, mahnte sie die Kleine, „nicht dass du ihn dann sitzen lässt, wenn wir aussteigen müssen“. Dann erzählte sie Peter, dass sie ihren geliebten Teddybären vor vierzig Jahren in der Straßenbahn sitzengelassen habe. Sie war damals fünf Jahre alt und mit ihrer Tante zum Weihnachtseinkauf in die Stadt gefahren. Damals sei sie sehr traurig gewesen über den Verlust ihren geliebten Bären. Peter musste über diese Geschichte schmunzeln, erwähnte aber nichts von seinem damaligen Fund.....

......Am ersten Adventsonntag, mild war es, aber stürmisch, machte sich Peter mit einem kleinen Bündel unter dem Arm auf den kurzen Weg hinauf zum Haus von Yvonne. Sie waren schon seit damals Nachbarn, sie in ihrem Elternhaus, Peter in den seinem. „Schön dass du kommst, wir sind gerade beim Tee, komm doch herein, bitte, sei so gut. Aus dem Haus strömte ihm ein feiner Duft von Weihnachtsgebäck entgegen. Ja, diese Einladung nahm er sehr gerne entgegen. „Wir sind am Backen und gönnen uns nun ein erstes Gutzi“, lächelte Yvonne. Kerzen auf dem Tisch und ein elektrischer Pyramidenleuchter am Fenster trugen das ihre bei zu dieser vorweihnachtlichen Stimmung.

Peter öffnete geheimnisvoll sein mitgebrachtes Bündel. „Mö ööö“, ertönte eine Stimme aus der Decke. Peter streckte mit einem Lächeln den mit Schal bekleideten Teddybären Yvonne hin und sagte: „schau, den habe ich just vor vierzig Jahren am ersten Advent in der Straßenbahn sitzend gefunden und ihn mit in mein Stübchen mitgenommen. So war mein Mutzli nicht ganz allein, denn zum spielen war ich damals nun wirklich zu alt“. Yvonne konnte ihre Tränen nicht zurückhalten, zu bewegt war sie. Sie umarmte Peter und küsste ihn auf die Wangen. „Mein Gott, du?“, stammelte sie ganz aufgeregt, „du hast ihn gefunden, nein so was, nun wohnen wir schon so lange nebeneinander und mein Fritzli, den ich so vermisst hatte, war mir so nah. Nun holte Peter auch noch seinen Mutzli aus der Decke, „nimm ihn zu Dir, denn die beiden sind in den vierzig Jahren gute Freunde geworden, sie zu trennen wäre für die beiden sicher sehr schlimm...

© Hans-Peter Zürcher

Donnerstag, 8. Dezember 2011


Eiskristalle

Einer Erinnerung aus meiner Kindheit...

An einem Sonntagmorgen Ende November, stahlblauer Himmel aber fünfzehn Grad Kälte, wurde ich von meinem Großvater abgeholt. Er wolle mit mir einen Spaziergang unternehmen.

Bereits beim Aufstehen konnten wir an den Fenstern in unserem Kinderzimmer die schönsten Eisblumen bewundern. Ein weißlicher Hauch, blau hinterlegt vom Himmel, aus den allerschönsten Mustern komponiert. Eisblumenzauber in höchster Vollendung, von der Natur geschaffen. Eine Kombination aus unserer nächtlicher Ausdünstung und kalter durchgefrorener Fensterscheiben, zusammengesetzt aus lauter kleinster und feinster Eiskristalle. Wir Kinder konnten uns nicht genug satt sehen an diesen Blumen- und Blattmustern. Wenn wir diese dann aus nächster Nähe betrachteten, brachte unser warme Atemhauch diese Gebilde langsam zum schmelzen, um dann, wenn wir wieder ein wenig Abstand nahmen, gleich wieder welche entstehen zu lassen. Dieses Spiel konnten wir an solch kalten Tagen fast beliebig lang spielen, waren doch die beiden Fenster nach Norden und Westen orientiert, daher nur kurz von der Nachmittagssonne gestreift. Durch die vom Wohnzimmer her geöffnete Türe konnte das Zimmer tagsüber beheizt werden, so zogen sich dann jeweils die zarten Eiskristallgebilde bis fast an den Rand der Fensterscheibe zurück, um dann in der Nacht aufs schönste wieder aufzublühen.

Gut eingepackt, mit Schal, Handschuhen und dicker Wollmütze bekleidet, machten wir uns auf den Weg. Schnee war wenig vorhanden, die Straßen und Wege aper. Aber die Bäume, die Zäune, ja sogar die Telefonleitungen waren mit einen dicken Eis-kristallschicht ummantelt. Ein Anblick, der zusammen mit dem tiefen blau des Himmels wie im Märchen aussah. Jedenfalls stellte ich mir so eine Märchenlandschaft vor. Dem Waldrand entlang steigerte sich das Bild dieser dick über- zuckerten Eiskristallgebilde, das sich in der Nacht über die Sträucher und Hecken gezogen hatte. Die Tannen, ja die ganze Landschaft sahen aus wie frisch verschneit. Da und dort ragten in den Wiesen aus dem eher spärlichen Schnee Grashalme, einzeln oder in ganzen Büscheln, steif gefroren und ebenfalls weiß überzuckert.

Gesprochen hatten wir nicht viel. Das unendlich schöne dieses Wintermorgens zog uns zu sehr in seinen Bann. Großvater versuchte mir dieses Phänomen der Eiskristallbildung zu erklären, ich konnte mir aber zu der Zeit überhaupt nicht vorstellen, wie so etwas entstehen kann. So verblieb es in mir als Vorstellung eines Zaubers, der mich heute noch in seinen Bann zieht, wenn ich Eiskristallgebilde in der Natur draußen betrachten kann. Eisblumen zu entdecken ist leider eher schwierig geworden. Aber wenn ich einmal ein solches Fenster entdecke, dann spiele ich das Spiel mit dem warmen Atemhauch.

 © Hans-Peter Zürcher

Samstag, 3. Dezember 2011


Das letzte Blatt

Eine Art Einleitung

... Träume sind ebenso verrückt wie das Leben selbst und gleichen sehr oft einer Gratwanderung zwischen Sein und Nichtsein, gleichen einer Fata Morgana, die aus Hitzeflimmern, Traum und Realität entspringt. Denn alle Wahrnehmungen und Gedanken sind Realität, nur, ob sie nun Zukunft, Jetztzeit oder Vergangenheit sind, das weiß ich auch nicht, verleiten mich aber dann oft zum Träumen ...

Das letzte Blatt

Seit vielen Tagen weht ein zügiger Biswind, der sämtliche Blätter von den Bäumen zu wischen scheint. In vielen herbstlichen Farben schweben sie zum Takt der him- mlischen Musik, die der Wind zu verbreiten scheint, dem Boden entgegen und bedecken so Wege, Gärten und Wiesen mit einem bunten Teppich, der lustig raschelt wenn man darüber schreitet. Die Sonne schickt ihre milden, wärmenden Strahlen über diese immer trostloser werdende Landschaft. Der blaue Himmel ist mit nebelartigen Schleierwolken durchsetzt, der die Sonne als milchig weiches Wärmekissen erscheinen lässt. In der Luft liegt ein Duft von Spätherbst. Ein Duft von verbranntem Holz und trockenem Laub. Geschäftig fliegen Vögel in die bald mal blätterfreien Bäume und Sträucher, als wäre der Frühling ausgebrochen. Auch die Primel scheint sich von dieser überaus milden Wettersituation zu blühenden Aus- brüchen verleitet zu haben und zeigt uns ihre Farben- pracht ebenso wie der immer noch in tiefstem Blau leuchtende Herbstenzian.

Der Herbst vollzieht alljährlich aufs Neue sein Ritual vom Vergehen, vom Sterben. Möchte aber, und dies alle Jahre aufs Neue, sich immer weiter in den eigentlichen Winter hinein schiebend, noch einmal aufblühen und zu neuem Leben erwachen. Ein ehrwürdig erreichtes Alter will nochmals aufblühen und in jugendlicher Schönheit und Scharm erscheinen. Es möchte noch nicht zu Grabe getragen werden.

Auch das immer noch sattgrüne Blatt ganz oben in der mächtigen Buche, auch das möchte diese Welt noch nicht verlassen. Mann kann es nur erkennen, wenn man den alten Baum mit seinen weit verzweigten Ästen genau betrachtet. Die meisten Blätter sind inzwischen dürr und braun verfärbt, fallen tanzend gleich Schneeflocken zu Boden und lassen den ehemals im Sommer prächtigen, schattenspendenden Baum nur noch als trostloses Gerippe erscheinen. Und ganz oben ein sattgrünes, saftiges Blatt, das sich dem Sterben erwehrt und mir im zügigen wehenden Biswind zuwinkt. Ob im Sonnenschein des Tages oder im blassen nächtlichen Lichte des Mondes, es harrt da oben aus und will nicht sterben.

Jeden Morgen schaue ich als erstes zu diesem Baum hinüber, sehe zum grünen Blatt hinauf, ob es sich vielleicht inzwischen auch zu verfärben beginnt und bin dann sehr erleichtert, dass es mir immer noch in frischem Grün in den Morgen begrüßt. Ist es ein Traum oder ist es Wirklichkeit? dieses saftig grünes Blatt im Spätherbst.

Nun wird es aber von Tag zu Tag später hell am Morgen und so bange ich bis zum Mittag. „Wie geht es meinem Blatt? ist es noch da und winkt es mir auch heute in seiner jugendlichen Frische wieder zu?“. Eine bange Angst kriecht in mir hoch. Doch dann fühle ich mich überglücklich, wenn ich es gesund und munter erblicke und ein Gefühl von Erleichterung löst meine bange Angst ab.

Eine enge Freundschaft ist zu diesem Blatt entstanden, das da oben stolz dem Wind und der Jahreszeit trotzt, eine Freundschaft die man schon fast als Liebe bezeichnen könnte. -Was ist, wenn auch dieses letzte Blatt fällt, wird die Zeit stehen bleiben, wird sich etwas in mir verändern, wird es einfach nur weitergehen wie jedes Jahr im ewigen Kreislauf der Zeiten-.


Eine Art Ausklang

... Fragen über Fragen beginnen in mir aufzukommen über Werden, Sein und Vergehen. Auch dieses Blatt wird eines Tages sterben müssen und aus diesem erloschenen Leben wird neues entstehen. Im ewigen Kreislauf hier auf Erden wie auch im Universum. Ich werde es vermissen wie einen lieben Freund, aber ich werde auch mit Zuversicht weiter schreiten durch mein Dasein, auf dass wieder Neues daraus entsteht und es weitergehen wird, endlos im ewigen Kreislauf von Werden, Sein und Vergehen ...

© Hans-Peter Zürcher