Donnerstag, 21. November 2013

Einsam


Einsam

Ernst war schon immer ein Einzelgänger gewesen, schon als Kind. Obwohl er mit seinem kleinen Bruder das Kinderzimmer teilte, fand er den Zugang zu ihm nicht. Er spielte alleine, saß verklärt auf dem Boden und führte sein rotes Blechauto belanglos über seine erdachten Strassen. Den Motor nachahmend blubberte es vor sich hin. „Komm, wir spielen Post“ wurde er etwa von seinem Bruder aufgefordert. „ Nein“ war seine lakonisch knappe Antwort. „Ja“, „nein“, „ich weiss nicht“, das war sein ganzer Wortschatz und das mit 5 Jahren. Im Kindergarten wurde er als aufgeweckter Bub, aber auch als Einzelgänger taxiert. Er redete kaum oder gab auf Fragen immer nur eine knappe Antwort. Das änderte sich auch später in der Schule nicht. Er war fleißig, hatte gute Schulnoten im Zeugnis, aber auch Vermerke wie „Ernst träumt“, oder  „Ernst ist ein Einzelgänger“. Lehrer und Eltern machten sich Gedanken, der Schulpsychologe jedoch meinte nur, „Ernst ist intelligent, gescheit, und der Rest kommt dann schon noch, er wird seinen Knopf sicher noch öffnen“. Auch sein Studium als Mathematiker schloss er mit Bravour ab und bekam eine Anstellung in einem großen Konzern.

Viele Jahre vergingen, Ernst lebte allein und zurückgezogen in einem schönen, ruhigen Quartier in der Stadt. Verließ morgens pünktlich seine Wohnung, ging zur Arbeit und kam abends ebenso regelmäßig und pünktlich wieder nach Hause. All seine Schul- und Studienkollegen waren bereits verheiratet, oder sie hatten eine Freundin. Nicht so Ernst, alleine, in sich zurückgezogen, lebte er vor sich hin, macht seine Arbeit zur besten Zufriedenheit seines Vorgesetzten. Entsprechend seiner Einzelgängerart, wurde ihm denn auch die Arbeit zugeteilt. Diese Arbeit bestand darin, dass er komplexe Berechnungen von noch komplexeren Aufgaben lösen musste, eine Arbeit, die keinen Kontakt zu anderen Menschen erforderte. Kontakt zu seiner Familie pflegte er eben so minimal, wie seine Antworten immer waren. Wenn er etwas gefragt wurde, gab er nach wie vor nur ein knappes „ja“, „nein“ oder „ich weiss nicht“ zurück.

Ferien machte er zurückgezogen in seinem Reich, der kleinen Wohnung im ruhigen Quartier in der Stadt. Da er keine Freunde hatte, bekam er auch nie Besuch in seine Wohnung. Der Familie verweigerte er durch seine Zurückgezogenheit ebenfalls den Zugang zu seinem Reich. Gegenüber seinen Mitbewohnern im Haus verhielt er sich eben so verhalten und zurückgezogen, dass die schon gar nicht merkten, dass in dieser Wohnung jemand lebte. Er war nie krank, kam immer pünktlich zur Arbeit und war seit nunmehr über dreissig Jahren so zuverlässig wie am ersten Arbeitstag.

Es war in der Vorweihnachtszeit. In der Stadt herrschte geschäftiges Treiben. Dies liess Ernst genau so unberührt wie eigentlich alles um ihn herum auch. Doch Am Montag nach dem 2. Adventsonntag geschah das unerklärliche, das keiner fassen konnte. Ernst erschien nicht zur Arbeit. Dies machte seinen Vorgesetzten etwas nachdenklich, er konnte sich jedoch im Moment keinen Reim daraus machen. -Er dachte sich nur: - Ernst hat kein Telefon zu Hause, ist wohl krank geworden und wird sich dann morgen in der Früh schon bei mir melden, so pünktlich und korrekt wie er immer ist -. Doch am anderen Tag kam kein Telefonanruf vom Ernst. Als nach zwei Tagen immer noch nichts von ihm zu hören war, wunderte man sich in der Firma und war gleichzeitig auch ein wenig in Sorge. Auch von seinen Arbeitskollegen konnte nichts in Erfahrung gebracht werden.  So beschloss sein Vorgesetzter, am Montag nach dem 3. Adventsonntag, ihm einen Besuch abzustatten.  Er  klingelte an der Wohnungstür von Ernst, einmal, zweimal und noch ein drittes mal, doch niemand öffnete. Am nächsten Tag versuchte er es noch einmal. Nichts, kein Laut, nur Stille. So beschloss er, den Hausdienst zu alarmieren und  mit diesem zusammen die Wohnungstür zu öffnen. Stille und Dunkelheit strömte ihnen aus der Wohnung entgegen und ein süßlich-muffiger Geruch. Küche und Bad waren fein säuberlich aufgeräumt, Ordnung auch im Schlafzimmer, das Bett unterrührt. Sämtliche Läden und Fenster geschlossen, nur aus dem Wohnzimmer konnte ein schwacher Lichtschimmer wahrgenommen werden.

Auf dem Stubentisch im Wohnzimmer stand ein Adventskranz, an dem eine von vier elektrischen Kerzen ein schwaches, trostloses Licht von sich gab und auf dem Boden sitzend, in sich zusammen gesunken fanden sie den Ernst, tot, vor sich ein rotes Blechauto…

© Hans-Peter Zürcher

Dienstag, 18. Juni 2013


Stumme Minuten

Der Zugabteil ist noch fast leer an diesem frühen Herbstmorgen, was mir nur recht ist, so kann ich die Eisenbahnfahrt alleine und in Ruhe geniessen.

Auf dem gegenüberliegenden Geleise fährt ein Zug ein. Die schwere Lock schiebt ein Rumpeln und Vibrieren vor sich hin, führt aber in ihrem Schlepp schwere Wagen mit vielen, gefüllt mit vielen Reisenden. Menschenschlangen stehen im Zwischengang, bereit zum Aussteigen. Jeder möchte der Erste sein, eine menschliche Angewohnheit. So zieht dann draußen auf dem Perron es eine grosse Menge Menschen in Richtung Ausgang. Dazwischen unzählige  Menschen, die zum Einsteigen in den eben eingefahrenen Zug bereit stehen. Umarmungen und Küsse, Tränen und Lächeln von Wegreisenden. Winken und Rufen, Umarmen und Küssen von Ankommenden. Durchsagen dringen in Wortfetzen in meinen Zugabteil. Ein Kommen und Gehen draußen auf dem Perron, Ruhe hier im Wagen. Nur ab und an das Rascheln einer Zeitung, die umgeblättert wird.

Doch die angenehm dumpfe Ruhe im Abteil wird kurz vor der Abfahrt jäh durch eine ausgelassenes Treiben einer Schulklasse unterbrochen. Lachend und schwatzend, voller Übermut stürzen die Kinder in munterem durcheinander ihren Wunschsitzplätzen im Wagen zu. In dieses überhitzte Treiben, das voller Freude über ihren Schulausflug entsteht, mischt sich nun das metallische, rhythmische Fahrgeräusch des anfahrenden Zuges. Ein leichtes hin und her Wiegen über Weichen und Kreuzungen, das sich allmählich in ein ruhiges, gleichmassig dumpfes Rattern auflöst. Draußen flitzen in rascher Abfolge Fahrleitungsmaste, nahe stehende Bäume und Häuser vorbei. In dessen sich die Hügel, Wälder und Häusergruppen in der Ferne nur langsam aus dem Blickfeld meines Fensters entfernen.  Meine Gedanken folgen meinen Blicken, die sich in die vorüber ziehende Landschaft verlieren.  

Die Schüler scheinen sich beruhigt zu haben, ab und zu dringen einige Wortfetzen oder Lacher an mein Ohr. Die Zeit zog dahin wie die Landschaft vor meinen Augen. Die Zeit, das unbekannte Wesen. So notier ich dann meine Gedanken in mein kleines, schwarzes Notizbüchlein, das ich stets in meiner Jackentasche mitführe:

- Die Wahrheit steckt im Kleinen, die Zeit schreitet unaufhörlich in die Weite des Universums und wir folgen ihr.

Die Zeit ist unabdingbar, die Wahrheit auch, das Echo kommt aus dem Universum. Wenn wir dort angelangt sind, wissen wir mehr, mehr über die Zeit und deren Wahrheit. Unsere Seele wird sich in die Unendlichkeit verlieren...

...und wir mit ihr. -

Der gleichmäßige, monotone Gesang der rollenden Räder wird nun durch ein sanftes hin und her Wiegen abgelöst. Weichen und Kreuzungen werden wie im Flug überfahren. Der hohle Klang einer Flussbrücke, dann wieder das Rattern und Rumpeln über Schienenstränge die kreuzen, verzweigen und zusammenführen. Der Zug wird langsamer. Parallel zu uns fährt ebenfalls ein Zug dem Bahnhof entgegen, mal ein wenig schneller als wir, dann aber wieder langsamer. Menschen schauen sich gegenseitig an, die einen lächeln oder schicken ein freundliches Nicken herüber, andere blicken starr und bewegungslos ins Nichts. Da winkt ein freudestrahlendes Kind, das seine Nase an der Fensterscheibe platt drückt. Dann trennen sich die beiden Züge wieder, um auf verschiednen Perrons in den Bahnhof einzufahren. 

Während dieser Einfahrt sind auch die Schüler wieder lauter geworden und drängeln dem Ausgang zu. Erwartungsvoll und neugierig, wie ihre Reise wohl nun weitergehen wird. Draußen auf dem Bahnsteig stehen nur wenig Menschen, einige schauen angespannt in die Fenster des einfahrenden Zuges, halten ausschaue, ob Die, die sie erwarten wohl auch mit dabei sind. Lautsprecherdurchsagen dröhnen mit einem kalten Echo aus der großen Bahnhofhalle, Bremsen quietschen und mit einem kurzen, aber heftigen Ruck steht der Zug still. Das muntere Durcheinander der Schüler verklingt und eine fast unheimliche Ruhe macht sich hier im Wagen breit.

Die Hoffnung, dass sich im gegenüberliegenden Abteil wiederum niemand niederlässt verblasst. Noch während sich nun der Zug wieder langsam in Bewegung setzt, macht es sich ein jüngeres Paar in den Sitzbänken im Nebenabteil bequem. Ihr weniges Reisegepäck ist schnell verstaut. Ruhig und ohne Worte sitzen sie sich gegenüber, beide ihren Blick hinaus in die vorüber ziehende Landschaft gerichtet. Er das Kommende sehend, sie das Vergangene. Stumme Minuten verfließen so zu einer stummen Stunde. Ab und zu kreuzen sich ihre Blick, ein schwaches Lächeln huscht über ihre Gesichter, das aber so schnell wie es gekommen war, wieder verschwindet und einem gleichgültigen Gesichtsausdruck platz macht. Ihre Augen suchen wieder das Weite in der Landschaft. Was mag in ihren Köpfen wohl vor sich gehen? Er das Kommende sehend, sie das Vergangene.

Auch ich lass wieder meinen Blick in die Ferne schweift, meinen Gedanken freien Lauf gewähren. So zücke ich erneut mein Notizbüchlein und schreibe:

- Der Herbst ist die Blüte des Sommers, entstanden aus einer erwärmenden Liebschaft aus Winter und Frühling. Denn ohne diese würde dem Herbst der goldene Glanz fehlen. -

Und genau so ist es auch jetzt, die Farben der überschwänglichen Blättervielfalt der Bäume sind großartig. Da und dort in den Rebhängen werden noch Trauben gelesen, obwohl es schon gegen Ende Oktober geht. Während über dem Fluss, der nun eine Zeit lang uns begleitet, ein Hauch von Dunst sich breit macht, erstrahlt aus dem tiefem blau des Himmels die wärmende Sonne. So lasse ich mich hinter der Fensterscheibe von ihr sehr gerne ein wenig verwöhnen, während dessen uns der gleichmäßige, monotone Gesang der rollenden Räder begleitet.

Das Paar im gegenüber liegenden Abteil schweigt sich immer noch aus. Aus stummen Stunden werden wieder weitere stumme Minuten, während er das Kommende sieht und sie das Vergangene...

© Hans-Peter Zürcher