Dienstag, 18. Juni 2013


Stumme Minuten

Der Zugabteil ist noch fast leer an diesem frühen Herbstmorgen, was mir nur recht ist, so kann ich die Eisenbahnfahrt alleine und in Ruhe geniessen.

Auf dem gegenüberliegenden Geleise fährt ein Zug ein. Die schwere Lock schiebt ein Rumpeln und Vibrieren vor sich hin, führt aber in ihrem Schlepp schwere Wagen mit vielen, gefüllt mit vielen Reisenden. Menschenschlangen stehen im Zwischengang, bereit zum Aussteigen. Jeder möchte der Erste sein, eine menschliche Angewohnheit. So zieht dann draußen auf dem Perron es eine grosse Menge Menschen in Richtung Ausgang. Dazwischen unzählige  Menschen, die zum Einsteigen in den eben eingefahrenen Zug bereit stehen. Umarmungen und Küsse, Tränen und Lächeln von Wegreisenden. Winken und Rufen, Umarmen und Küssen von Ankommenden. Durchsagen dringen in Wortfetzen in meinen Zugabteil. Ein Kommen und Gehen draußen auf dem Perron, Ruhe hier im Wagen. Nur ab und an das Rascheln einer Zeitung, die umgeblättert wird.

Doch die angenehm dumpfe Ruhe im Abteil wird kurz vor der Abfahrt jäh durch eine ausgelassenes Treiben einer Schulklasse unterbrochen. Lachend und schwatzend, voller Übermut stürzen die Kinder in munterem durcheinander ihren Wunschsitzplätzen im Wagen zu. In dieses überhitzte Treiben, das voller Freude über ihren Schulausflug entsteht, mischt sich nun das metallische, rhythmische Fahrgeräusch des anfahrenden Zuges. Ein leichtes hin und her Wiegen über Weichen und Kreuzungen, das sich allmählich in ein ruhiges, gleichmassig dumpfes Rattern auflöst. Draußen flitzen in rascher Abfolge Fahrleitungsmaste, nahe stehende Bäume und Häuser vorbei. In dessen sich die Hügel, Wälder und Häusergruppen in der Ferne nur langsam aus dem Blickfeld meines Fensters entfernen.  Meine Gedanken folgen meinen Blicken, die sich in die vorüber ziehende Landschaft verlieren.  

Die Schüler scheinen sich beruhigt zu haben, ab und zu dringen einige Wortfetzen oder Lacher an mein Ohr. Die Zeit zog dahin wie die Landschaft vor meinen Augen. Die Zeit, das unbekannte Wesen. So notier ich dann meine Gedanken in mein kleines, schwarzes Notizbüchlein, das ich stets in meiner Jackentasche mitführe:

- Die Wahrheit steckt im Kleinen, die Zeit schreitet unaufhörlich in die Weite des Universums und wir folgen ihr.

Die Zeit ist unabdingbar, die Wahrheit auch, das Echo kommt aus dem Universum. Wenn wir dort angelangt sind, wissen wir mehr, mehr über die Zeit und deren Wahrheit. Unsere Seele wird sich in die Unendlichkeit verlieren...

...und wir mit ihr. -

Der gleichmäßige, monotone Gesang der rollenden Räder wird nun durch ein sanftes hin und her Wiegen abgelöst. Weichen und Kreuzungen werden wie im Flug überfahren. Der hohle Klang einer Flussbrücke, dann wieder das Rattern und Rumpeln über Schienenstränge die kreuzen, verzweigen und zusammenführen. Der Zug wird langsamer. Parallel zu uns fährt ebenfalls ein Zug dem Bahnhof entgegen, mal ein wenig schneller als wir, dann aber wieder langsamer. Menschen schauen sich gegenseitig an, die einen lächeln oder schicken ein freundliches Nicken herüber, andere blicken starr und bewegungslos ins Nichts. Da winkt ein freudestrahlendes Kind, das seine Nase an der Fensterscheibe platt drückt. Dann trennen sich die beiden Züge wieder, um auf verschiednen Perrons in den Bahnhof einzufahren. 

Während dieser Einfahrt sind auch die Schüler wieder lauter geworden und drängeln dem Ausgang zu. Erwartungsvoll und neugierig, wie ihre Reise wohl nun weitergehen wird. Draußen auf dem Bahnsteig stehen nur wenig Menschen, einige schauen angespannt in die Fenster des einfahrenden Zuges, halten ausschaue, ob Die, die sie erwarten wohl auch mit dabei sind. Lautsprecherdurchsagen dröhnen mit einem kalten Echo aus der großen Bahnhofhalle, Bremsen quietschen und mit einem kurzen, aber heftigen Ruck steht der Zug still. Das muntere Durcheinander der Schüler verklingt und eine fast unheimliche Ruhe macht sich hier im Wagen breit.

Die Hoffnung, dass sich im gegenüberliegenden Abteil wiederum niemand niederlässt verblasst. Noch während sich nun der Zug wieder langsam in Bewegung setzt, macht es sich ein jüngeres Paar in den Sitzbänken im Nebenabteil bequem. Ihr weniges Reisegepäck ist schnell verstaut. Ruhig und ohne Worte sitzen sie sich gegenüber, beide ihren Blick hinaus in die vorüber ziehende Landschaft gerichtet. Er das Kommende sehend, sie das Vergangene. Stumme Minuten verfließen so zu einer stummen Stunde. Ab und zu kreuzen sich ihre Blick, ein schwaches Lächeln huscht über ihre Gesichter, das aber so schnell wie es gekommen war, wieder verschwindet und einem gleichgültigen Gesichtsausdruck platz macht. Ihre Augen suchen wieder das Weite in der Landschaft. Was mag in ihren Köpfen wohl vor sich gehen? Er das Kommende sehend, sie das Vergangene.

Auch ich lass wieder meinen Blick in die Ferne schweift, meinen Gedanken freien Lauf gewähren. So zücke ich erneut mein Notizbüchlein und schreibe:

- Der Herbst ist die Blüte des Sommers, entstanden aus einer erwärmenden Liebschaft aus Winter und Frühling. Denn ohne diese würde dem Herbst der goldene Glanz fehlen. -

Und genau so ist es auch jetzt, die Farben der überschwänglichen Blättervielfalt der Bäume sind großartig. Da und dort in den Rebhängen werden noch Trauben gelesen, obwohl es schon gegen Ende Oktober geht. Während über dem Fluss, der nun eine Zeit lang uns begleitet, ein Hauch von Dunst sich breit macht, erstrahlt aus dem tiefem blau des Himmels die wärmende Sonne. So lasse ich mich hinter der Fensterscheibe von ihr sehr gerne ein wenig verwöhnen, während dessen uns der gleichmäßige, monotone Gesang der rollenden Räder begleitet.

Das Paar im gegenüber liegenden Abteil schweigt sich immer noch aus. Aus stummen Stunden werden wieder weitere stumme Minuten, während er das Kommende sieht und sie das Vergangene...

© Hans-Peter Zürcher