Die Jahrmarktorgel
Sie stand schon sehr lange auf dem großen Platz, die einst so schöne große, alte Jahrmarktorgel. Ein Abstellplatz, der eher einer Schutthalde glich. Ein kühler, nebliger Herbsttag zog über diese Gegend wie schon viele, Jahre zu vor. Heerscharen von Krähen hausten tagsüber auf diesem Platz und suchten nach Futter. Immer wieder flogen sie in Scharen auf, um dann gleich wieder, ein Stück weiter vorn nieder zu gehen um den Boden aufs Neue nach Fressbarem zu durchsuchen.
- A. Ruth & Sohn Orgelbau zu Baden - stand in goldfarbenen, verwitterten Lettern auf der Seite dieses Gefährts, das sich einmal Wagen nannte. Dieser hölzerne braune Wagen war nicht mehr als solchen zu erkennen, die Farbe abgeblättert, das Holz faulig. Die Treppe am hinteren Ende des Wagens war abgesenkt, eine der Stufen fehlte, weggerissen, die zweiflüglige Türe halb offen, der zweite Flügel fehlte gänzlich. Und Innen sah es auch nicht besser aus. Die Stromversorgung, der Antrieb und die Blasbälge zerschlissen, voller Kot und anderem Dreck, eine Jammerorgel, nichts von dem Glanz vergangener Zeiten...
...Verschlossen und eingepackt stand sie da, in einem hölzernen, langen braunen Wagen. Abgestellt an dem Ort, wo sie eigentlich seit eh und je hingestellt wurde, am Ende oder am Anfang der Budenstadt, gerade da, wo die Besucher ihren Jahrmarktrundgang begannen oder beendeten. Ihr Geheimnis behielt sie, verschlossen wie sie war, bis an dem Tag, an dem es punkt Zwölfuhr mittags schlug vom nahen Kirchturm. Eine Viertelstunde vor diesem Stundenschlag wurden ihre Laden aufgeklappt, so dass ihre ganze Pracht aus dem Dunkel dieses Wagens freigegeben wurde. Ein alter Mann, ich glaubte immer, er sei genau so alt wie diese Orgel selbst, war Hüter dieses Geheimnisses. Mit einem einzigen Schalterhebel konnte alte Mann, einem Zauberer gleich, die große Orgel zum spielen bringen. Punkt Zwölfuhr mittags, auf den Schlag genau. Dieser Zauberer kam schon seit vielen, vielen Jahren mit seiner wunderbaren, großen Orgel in unser Dorf, um im Oktober den Jahrmarkt mit dieser besonderen Musik zu bereichern.
Und nun begann sie zu spielen und jubilieren. Die hübschen Damen mit ihrem verspielten Lächeln schlugen im Takte der Musik ihre Glocken, die sie in ihren zarten Händen hielten. Gleich vier dieser holden Wesen bevölkerten dieses Wunderwerk der Technik, auf Podesten stehend, links und rechts der Orgelpfeifen angeordnet. Zwei große Engel auf jeder Seite mit Trompeten bewachten blasend diese mächtige Orgel, als währe sie ein Heiligtum. Stolz standen sie da und setzten jeweils bei Beginn eines neuen Musikstückes ihr Instrument an den Mund, als wollten sie damit den richtigen Ton angeben. In der Mitte dieser Szenerie stand stramm und stolz ein Dirigent, der sich nach links und rechts drehend, mit seinem Dirigentenstab den Takt angab und so der Musik ihren Schwung zu verleihen schien. Trommel, Pauke und Tschinelle gehörten ebenso zum Spiel, wie die vielen Orgelpfeifen, die ihre Melodien wie kleine, niedliche Vögel schweben ließen.
Den ganzen Tag schon erklangen nun diese herrlichen Melodien. Staunende, grosse Kinderaugen, aber auch glänzende Äuglein Erwachsener ergaben immer wieder ein bewegendes Bild ab. Vor den Zuhörern die große, alte Jahrmarktorgel, fein beleuchtet von unzähligen Glühbirnen. Sie liessen die musikalische Szenerie in herrlichen Farben glitzern und leuchten, genau so wie ihre kräftigen Akkorde und Klänge. Dahinter die alten Häuser und die Kirche vom Dorf, ein dunkelblauer Himmel, der sich ins Schwarze zu verlaufen schien. Es begann einzudunkeln. Zwischenzeitlich durften sich viele hundert Zuhörer satt hören an diesen zauberhaften Melodien. Die Lichter der Orgel, die im Takte sich wechselnd veränderten und zeitweilig leicht zu flackern anfingen, wurden nun, je dunkler es rundherum wurde, immer besser sichtbar. Der alte Mann stand immer noch bei seiner Orgel, ab und zu verschwand er im Inneren dieser geheimnisvollen Anlage, um der Maschine neue Aufgaben, in Form von gestanzten Kartonelementen, einzuhauchen. Kühl, fast kalt war es nun geworden und immer noch standen viele Menschen, Jung und Alt, vor diesem Instrumentarium aus alten Tagen um sich verzaubern zu lassen. In all den vielen Jahren, die ich immer wieder lange und immer wieder aufs Neue staunend vor dieser Jahrmarktorgel verbrachte, hatte ich das Gefühl, dass deren Besitzer, eben dieser alte Mann, nicht älter geworden war. Ein liebliches, aber steht’s glatt rasiertes Gesicht mit listig dreinschauenden Augen, einfach gekleidet, nicht größer als ein Junge von fünfzehn Jahren und eher Mager war er anzuschauen. In diesem Jahr fiel mir auf, dass er immer wieder von heftigen Hustenanfällen geschüttelt wurde.
Der Jahrmarkt dauerte wie alle Jahre nur drei Tage, aber bereits am zweiten Tag blieb die Jahrmarktorgel stumm. Es hieß, dass ihr Besitzer, am späteren Abend zusammen gebrochen sei und nun im Spital liege. Die Orgel stand geschlossen an ihrem Platz, keine Musik, keine Lichter, keine sich bewegende Figuren. Ein trauriges und trostloses Bild. Beim vorbeigehen glaubte man jedoch, ihre Musik hören zu können, die wie kleine Vögel in den nachtblauen Himmel entschwebten, den vielen glitzernden Sternen entgegen.
Am dritten Tag dieses Jahrmarktes war an der Jahrmarktorgel ein mit großen schwarzen Buchstaben beschriebenes Blatt Papier angebracht: „Dieser Betrieb bleibt wegen Todesfall geschlossen„
© Hans-Peter Zürcher
Sie stand schon sehr lange auf dem großen Platz, die einst so schöne große, alte Jahrmarktorgel. Ein Abstellplatz, der eher einer Schutthalde glich. Ein kühler, nebliger Herbsttag zog über diese Gegend wie schon viele, Jahre zu vor. Heerscharen von Krähen hausten tagsüber auf diesem Platz und suchten nach Futter. Immer wieder flogen sie in Scharen auf, um dann gleich wieder, ein Stück weiter vorn nieder zu gehen um den Boden aufs Neue nach Fressbarem zu durchsuchen.
- A. Ruth & Sohn Orgelbau zu Baden - stand in goldfarbenen, verwitterten Lettern auf der Seite dieses Gefährts, das sich einmal Wagen nannte. Dieser hölzerne braune Wagen war nicht mehr als solchen zu erkennen, die Farbe abgeblättert, das Holz faulig. Die Treppe am hinteren Ende des Wagens war abgesenkt, eine der Stufen fehlte, weggerissen, die zweiflüglige Türe halb offen, der zweite Flügel fehlte gänzlich. Und Innen sah es auch nicht besser aus. Die Stromversorgung, der Antrieb und die Blasbälge zerschlissen, voller Kot und anderem Dreck, eine Jammerorgel, nichts von dem Glanz vergangener Zeiten...
...Verschlossen und eingepackt stand sie da, in einem hölzernen, langen braunen Wagen. Abgestellt an dem Ort, wo sie eigentlich seit eh und je hingestellt wurde, am Ende oder am Anfang der Budenstadt, gerade da, wo die Besucher ihren Jahrmarktrundgang begannen oder beendeten. Ihr Geheimnis behielt sie, verschlossen wie sie war, bis an dem Tag, an dem es punkt Zwölfuhr mittags schlug vom nahen Kirchturm. Eine Viertelstunde vor diesem Stundenschlag wurden ihre Laden aufgeklappt, so dass ihre ganze Pracht aus dem Dunkel dieses Wagens freigegeben wurde. Ein alter Mann, ich glaubte immer, er sei genau so alt wie diese Orgel selbst, war Hüter dieses Geheimnisses. Mit einem einzigen Schalterhebel konnte alte Mann, einem Zauberer gleich, die große Orgel zum spielen bringen. Punkt Zwölfuhr mittags, auf den Schlag genau. Dieser Zauberer kam schon seit vielen, vielen Jahren mit seiner wunderbaren, großen Orgel in unser Dorf, um im Oktober den Jahrmarkt mit dieser besonderen Musik zu bereichern.
Und nun begann sie zu spielen und jubilieren. Die hübschen Damen mit ihrem verspielten Lächeln schlugen im Takte der Musik ihre Glocken, die sie in ihren zarten Händen hielten. Gleich vier dieser holden Wesen bevölkerten dieses Wunderwerk der Technik, auf Podesten stehend, links und rechts der Orgelpfeifen angeordnet. Zwei große Engel auf jeder Seite mit Trompeten bewachten blasend diese mächtige Orgel, als währe sie ein Heiligtum. Stolz standen sie da und setzten jeweils bei Beginn eines neuen Musikstückes ihr Instrument an den Mund, als wollten sie damit den richtigen Ton angeben. In der Mitte dieser Szenerie stand stramm und stolz ein Dirigent, der sich nach links und rechts drehend, mit seinem Dirigentenstab den Takt angab und so der Musik ihren Schwung zu verleihen schien. Trommel, Pauke und Tschinelle gehörten ebenso zum Spiel, wie die vielen Orgelpfeifen, die ihre Melodien wie kleine, niedliche Vögel schweben ließen.
Den ganzen Tag schon erklangen nun diese herrlichen Melodien. Staunende, grosse Kinderaugen, aber auch glänzende Äuglein Erwachsener ergaben immer wieder ein bewegendes Bild ab. Vor den Zuhörern die große, alte Jahrmarktorgel, fein beleuchtet von unzähligen Glühbirnen. Sie liessen die musikalische Szenerie in herrlichen Farben glitzern und leuchten, genau so wie ihre kräftigen Akkorde und Klänge. Dahinter die alten Häuser und die Kirche vom Dorf, ein dunkelblauer Himmel, der sich ins Schwarze zu verlaufen schien. Es begann einzudunkeln. Zwischenzeitlich durften sich viele hundert Zuhörer satt hören an diesen zauberhaften Melodien. Die Lichter der Orgel, die im Takte sich wechselnd veränderten und zeitweilig leicht zu flackern anfingen, wurden nun, je dunkler es rundherum wurde, immer besser sichtbar. Der alte Mann stand immer noch bei seiner Orgel, ab und zu verschwand er im Inneren dieser geheimnisvollen Anlage, um der Maschine neue Aufgaben, in Form von gestanzten Kartonelementen, einzuhauchen. Kühl, fast kalt war es nun geworden und immer noch standen viele Menschen, Jung und Alt, vor diesem Instrumentarium aus alten Tagen um sich verzaubern zu lassen. In all den vielen Jahren, die ich immer wieder lange und immer wieder aufs Neue staunend vor dieser Jahrmarktorgel verbrachte, hatte ich das Gefühl, dass deren Besitzer, eben dieser alte Mann, nicht älter geworden war. Ein liebliches, aber steht’s glatt rasiertes Gesicht mit listig dreinschauenden Augen, einfach gekleidet, nicht größer als ein Junge von fünfzehn Jahren und eher Mager war er anzuschauen. In diesem Jahr fiel mir auf, dass er immer wieder von heftigen Hustenanfällen geschüttelt wurde.
Der Jahrmarkt dauerte wie alle Jahre nur drei Tage, aber bereits am zweiten Tag blieb die Jahrmarktorgel stumm. Es hieß, dass ihr Besitzer, am späteren Abend zusammen gebrochen sei und nun im Spital liege. Die Orgel stand geschlossen an ihrem Platz, keine Musik, keine Lichter, keine sich bewegende Figuren. Ein trauriges und trostloses Bild. Beim vorbeigehen glaubte man jedoch, ihre Musik hören zu können, die wie kleine Vögel in den nachtblauen Himmel entschwebten, den vielen glitzernden Sternen entgegen.
Am dritten Tag dieses Jahrmarktes war an der Jahrmarktorgel ein mit großen schwarzen Buchstaben beschriebenes Blatt Papier angebracht: „Dieser Betrieb bleibt wegen Todesfall geschlossen„
© Hans-Peter Zürcher