Sonntag, 13. März 2011

Einsam

Ernst war schon immer ein Einzelgänger gewesen, schon als Kind. Obwohl er mit seinem kleinen Bruder im selben Kinderzimmer gewohnt hatte, fand es den Zugang zu ihm nicht. Er spielte alleine, saß verklärt auf dem Boden und führte sein rotes Blechauto belanglos über seine gedachten Strassen. Den Motor nachahmend blubberte es vor sich hin. „Komm, wir spielen Post“ wurde er etwa von seinem Bruder aufgefordert. „ Nein“ war seine lakonisch knappe Antwort. „Ja“, „nein“, „ich weiss nicht“, das war sein ganzer Wortschatz und das mit 5 Jahren. Im Kindergarten wurde er als aufgeweckter Bub, aber auch als Einzelgänger taxiert. Redete kaum oder gab nur eine knappe Antwort. Das änderte sich auch später in der Schule nicht. Er war fleißig, hatte gute Schulnoten im Zeugnis, aber auch Vermerke wie - Ernst träumt -, oder - Ernst ist ein Einzelgänger -. Lehrer und Eltern machten sich Gedanken, der Schulpsychologe meinte aber nur, „Ernst ist intelligent, gescheit, und der Rest kommt dann schon noch, er wird seinen Knopf sicher noch öffnen“. Auch sein Studium als Mathematiker schloss er mit Bravour ab und bekam schon bald mal eine Anstellung in einem großen Konzern.

Viele Jahre vergingen, Ernst lebte allein und zurückgezogen in einem schönen, ruhigen Quartier in der Stadt. Verließ morgens pünktlich seine Wohnung, ging zur Arbeit und kam abends ebenso regelmäßig und pünktlich wieder nach Hause. All seine Schul- und Studienkollegen waren bereits verheiratet, oder sie hatten eine Freundin. Nicht so Ernst, alleine, in sich zurückgezogen lebte er vor sich hin, macht seine Arbeit zur besten Zufriedenheit seines Vorgesetzten. Entsprechend seiner Einzelgängerart, wurde ihm denn auch die Arbeit zugeteilt. Diese Arbeit bestand darin, dass er komplexe Berechnungen von noch komplexeren Aufgaben lösen musste, eine Arbeit, die keinen Kontakt zu anderen Menschen erforderte. Kontakt zu seiner Familie pflegte er eben so minimal, wie seine Antworten immer waren. Wenn er etwas gefragt wurde, gab er nach wie vor nur ein knappes „ja“, „nein“ oder „ich weiss nicht“ zurück.

Ferien machte er zurückgezogen in seinem Reich, der kleinen Wohnung im ruhigen Quartier in der Stadt. Da er keine Freunde hatte, kam er auch nie Besuch in seine Wohnung. Der Familie verweigerte er durch seine Zurückgezogenheit ebenfalls den Zugang in seine Räume. Gegenüber seinen Mitbewohnern im Haus verhielt er sich eben so verhalten und zurückgezogen, dass die schon gar nicht merkten, dass in dieser Wohnung jemand lebte. Er war nie krank, kam immer pünktlich zur Arbeit und war seit nunmehr über dreissig Jahren so zuverlässig wie am ersten Arbeitstag.

Doch eines Tages geschah das unerklärliche, das keiner fassen konnte. Ernst erschien nicht zur Arbeit. Das machte seinen Vorgesetzten wohl stutzig. Er dachte sich aber im Moment nicht all zu viel, außer: - Ernst hat kein Telefon zu hause, war wohl krank geworden und wird sich dann morgen Früh schon melden, so zuverlässig er ja auch ist -. Als nach zwei Tagen immer noch nichts von ihm zu hören war, klingelte sein Vorgesetzter wieder an der Wohnungstür von Ernst, einmal, zweimal, doch niemand öffnete. Am nächsten Tag versuchte er es noch einmal, nichts, kein Laut, nur Stille. Nun öffnete er zusammen mit dem Hauswart die Wohnungstür. Stille und Dunkelheit strömte ihnen aus dem Wohnungseingang entgegen und ein süßlich-muffiger Geruch. Küche und Bad waren fein säuberlich aufgeräumt, Ordnung auch im Schlafzimmer, das Bett unterrührt. Sämtliche Läden und Fenster geschlossen und …im Wohnzimmer, auf dem Boden sitzend, in sich zusammengesunken fanden sie Ernst, tot, vor sich ein rotes Blechauto…

© Hans-Peter Zürcher

5 Kommentare:

Rosanna Maisch hat gesagt…

Guten Morgen lieber Hans-Peter,

diese sehr traurige und tragische Erzählung habe ich gerne gelesen. Ich bin erschüttert...ich vermute die Geschichte ist fiktiv, oder ? Aber solche in sich gekehrten Menschen gibt es ja wirklich...man sollte sie nicht vereinsamen lassen...

Liebe Grüße, Rosanna

HANS-PETER ZÜRCHER hat gesagt…

Ganz herzlichen Dank fürs Lesen und Deinen Kommentar meine liebe Rosanna.

Wenn ich im Tram oder in Zug unterwegs bin, beobachte ich all die Menschen um mich herum. Viele sehe ich seit Jahren auf meinem/ihrem Arbeitsweg. Ihre Mimik, ihr Verhalten, ihre Gespräche erzählen Bände. So bin ich auch zu dieser Geschichte gekommen, eine Geschichte, die das Leben schrieb. Ich möchte die geneigten Leser/innen in diese Geschichte verwickeln und zum Suchen anregen, zum Fragen und Antworten anregen. Glücklich oder unglücklich, gelebt oder dahinvegetiert. Meist sieht man an Menschen, die man nicht persönlich kennt, nur an sie heran, vielleicht auch noch ein wenig in sie hinein, außer sie verschließen sich völlig. Jedenfalls Schicksale, die uns als Mitmenschen eigentlich nicht gleichgültig sein dürften.

Man sollte meinen, dass die menschliche Gesellschaft das Höchste ist, aber der Alltag lehrt anderes, nämlich das, was in der Tierwelt nie passieren kann.

Ich denke aber auch, dass die Einsamkeit eine Flucht nach innen sein kann, das sich distanzieren von einer Gesellschaft, die sich im allgemeinen nur um Macht und Größe bemüht, die Schwächeren zurücklässt und mit aller Gewalt sich das nimmt, was ihr nicht gehört.

Ich glaube, jeder von uns wünscht sich ein wenig Einsamkeit, sich einmal ein wenig zurückziehen von all dem Wahnsinn, der auf dieser eigentlich wunderbaren Welt sich abspielt.

Einsamkeit hat viele Ursachen. Ja, es kann einem traurig stimmen. Ob nun Ernst sich selbst und freiwillig in die Einsamkeit zurückgezogen hat, oder ob er einfach in diese Rolle geschoben wurde, das überlass ich sehr gerne den geneigten Leserinnen und Lesern. Ich meine aber, dass wir Menschen immer ein offenes Auge und Ohr haben müssen, denn viele Mitmenschen schaffen es einfach nicht, sich unter andere zu begeben um sich so aus ihrer Einsamkeit heraus zu finden.

Ehrgeiz und Größenwahn, Macht und Reichtum sind doch der Gesellschaft ihr Ziel. Psychische und physische Gewalt wird eingesetzt, um ihr Ziel zu erreichen. Dass dabei Menschenleben und die Natur geopfert wird, interessiert nicht. Der Mensch, das grosse intelligente Wesen, das letztendlich an sich selbst zu Grunde gehen wird.

Herzlichst und alles Liebe
Hans-Peter

Novemberkind hat gesagt…

Habe deine Geschichte mit großen Interesse gelesen. Ich denke, Ernst hat sich seine Einsamkeit selbst gewählt und war damit glücklich. Ein Eremit inmitten der Stadt. Ein wenig stutzig machte mich dennoch das Verhalten mit dem kleinen roten Blechauto.
Etwas anderes ist es, wenn es eine Vorgeschichte gibt, die einen Menschen dazu veranlasst sich dermaßen von der Gesellschaft zurück zu ziehen oder gar eine psychische Erkrankung. Diese Menschen brauchen unbedingt Hilfe und Unterstützung um ins Leben zurück zu finden.
Wie auch immer, insgesamt fand ich die Geschichte sehr traurig.
Vielen Dank Hans-Peter , ich mag Geschichten die zum nachdenken anregen.

Ganz liebe Grüße. Bina

HANS-PETER ZÜRCHER hat gesagt…

Liebe Bina,

vielen Dank für Deine Rezension. Auch wenn diese Geschichte fiktiv ist, ich beobachte oft Menschen, denen ich dieses Bild ihrem Verhalten entsprechen, zuordnen kann. Ja, es stimmt traurig, sind es doch immer psychische Momente, die Menschen so leben lassen...

Herzlichst und alles Liebe

Hans-Peter

Ulrike Neumann hat gesagt…

Ich habe sie auch mit Interesse gelesen, Deine Geschichte vom einsamen Menschen. So wie ich es lese, wollte er ja auch keine Gemeinsamkeit mit anderen, da denke ich, kann man nichts machen. Nicht die anderen haben ihn ausgeschlossen, sondern er hat sich ausgeschlossen. Nicht immer suchen die Individuen Gemeinsamkeitund auch die Menschen sind verschieden geschrickt.
Anders, wenn in großen Städten die Menschen ohne ihr Wollen Vereinsamen (das kann auch auf dem Lande passieren), dann sind wohl auch Wir, im weitesten Sinne, daran Schuld.

Ich finde es schön, dass Du Geschichten aufschreibst.

Liebe Grüße Ulrike