Müde
Ein neuer Morgen bricht leise an, zeigt sich aber eher von seiner düsteren Seite. Kühl und mit Hochnebel, in dessen spärlichen, lichten Stellen sich immerhin ein wenig Blau erahnen lässt. So präsentiert sich der Himmel über einer düsteren, müde wirkenden Landschaft. Ein Duft von kühler Feuchte und welken Blättern, die still und in loser Folge vom einen oder anderen Baum zu Boden schweben, liegt in der Luft. Die Bäume und Blumen, die Wiesen und Wälder haben auch in diesen Sommer wieder alles gegeben, was sie uns zu bieten hatten. Vom Spriessen der ersten Blätter an den Bäumen im Frühling, über eine reichliche Blütenpracht bis hin zum ersten, sachten Verfärben ihrer Blätter. Nochmals zeigen sich die Blumen in all ihren herbstlichen Farben und Pracht. Nochmals glänzen die letzten reifen Früchte des Spätsommers an den Ästen der Bäume. Nochmals verleihen die Bäume ihren Ästen eine großartige Farbenvielfalt.
Aus der Stille der Nacht erwacht dieser neuer Morgen ins erste Tageslicht, gleich einem Falter, der aus seiner Verpuppung schlüpft. Erwacht in einen Tag, der bereits ein wenig nach dem kommenden Herbst duftet. Ein leiser Zauber, entstanden durch feinste Bodennebelchen, die sich zärtlich um Pflanzen schlängelt und diese mit tausenden kleinster Tautröpfchen segnet, verleiht der Landschaft etwas märchenhaftes.
Der Hochnebel beginnt sich im ersten Sonnlicht sachte aufzulösen, in einzelne Fetzen zu zersetzen, um sich dann wieder mit anderen gleichgesinnten zu neuen Schwaden zu verweben. Ein wogendes auf und ab, ein hin und her, gleiche einer Meeresbrandung, ein spannendes Spiel mit Höhenwind und Thermik. Im Gegensatz zu hier unten auf der Erde ist keine Spur von Müdigkeit auszumachen, im Gegenteil, ein munteres Treiben, zu dem sich nun auch noch ein Krähenvolk aus dem nahen Feld einzulassen scheint. Sie spielen mit lautstarkem Gekreische ihr Spiel mit dem den Gezeiten am Himmel.
Die herbstlich milde Sonne scheint noch nicht müde zu sein, sie setzt sich aber beharrlich durch. Nicht mehr mit der gleichen Kraft wie im Sommer, aber immer noch recht warm. Die letzten hartnäckigen Nebelschwaden lösen sich auf und geben nun so den Blick auf weiße Kaltluftwölkchen frei, die am klaren Himmel wie kleine Schiffchen übers blaue Meer dahin ziehen. Die abertausend Tautröpfchen auf Wiesen und Blättern beginnen zu Glitzern, als wären es die Sterne der Nacht.
Die wärmende Sonne verleiht nun auch der Landschaft neuen Glanz und neue Düfte. In einen milden, zarten Hauch gehüllt schweben sie als Duftwölkchen daher, vermischen sich mit dem Duft der Morgenfeuchte zu einem ganzen, würzigen Etwas, das nach Herbst riecht, nach Müdigkeit, aber auch nach Gelassenheit und Reife. Nimmermüde Bienenvölker summen und brummen den letzten Blumen entgegn, um vom letzten süßen Tau zu naschen- Letzte Schmetterlinge tun es ihnen gleich. Spielend flattern sie von Blume zu Blume, gefolgt von Libellen, die angelockt von taufeuchten Wiesen gleich kleiner Helikopter über dieselben schweben. Ein zweiter Frühling scheint ausgebrochen zu sein, ausgereift und erwachsen geworden, Licht- und Dufterfüllt, aber keine Spur von Müdigkeit...
Oder etwa doch? Ein welkes Blatt schwebt wieder leise zu Boden und da noch eins...
© Hans-Peter Zürcher
5 Kommentare:
Wow !!!
Deine Naturbetrachtungen über den Herbst sind voller Schönheiten, sehr anschaulich beschrieben und man kann sich förmlich hineinbegeben..sogar die herbstlichen Gerüche stiegen mir in die Nase :-) und die Schlusssätze einfach großartig ! WUNDERBAR, und vielen Dank dafür, lieber Hans-Peter !!
Herzlichst Rosanna
Hans-Peter, schön geschrieben,
so schnell wie die Wolken fliegen, so schnell verändert sich das Erdendasein, die kleinen verspielten Momente, wie ein Verstecken um sich zu jeder Jahreszeit wieder zu finden, von neuem zu entdecken.
was für ein Geschenk jeder Tag, jede Jahreszeit,- Vergessen wir die Verbeugung nicht! vor jedem gefallenen Blatt.
mit vielen Grüßen, Jasmin
Lieber Hans-Peter,
ich liebe solche Naturbeschreibungen sehr und danke Dir für Deine wunderschönen Geschichten.
Sei herzlich und anerkennend gegrüßt von Celine
Le ciel d'automne est un peu triste , mais que ces arbres sont beaux !
Je ne lis pas la langue allemande , mais je vois vos photos Bouddhistes .
J'aime beaucoup le Bouddhisme et l'Hindouisme .
Lieber Hans-Peter,
vor meinen Augen erscheint ein
kreatives und anmutiges Gemälde
der Natur, Du hast ein Unikat erschaffen, aus dem auch eine liebliche Musik erklingt, beschwingt
und melancholisch zugleich, eine Flora festgehalten für immer... Herzliche und liebe Grüße eilen zu Dir, Karin Lissi
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