Montag, 30. Mai 2011


Novembereis oder gefrorene Herzen

Das d – Moll Klavierkonzert No. 3 von Rachmaninov begann mit einer traurigen Düsterheit und Schwere, als wollte diese den Hörer hinabziehen in eine dunkle Welt der Hilflosigkeit. Doch schon bald, übernahm das Soloklavier mit leisen und zarten Tönen das Zepter und vermittelte so Zuversicht und Hoffnung, die gleich aber wieder durch wirbelnde Klangveränderungen einem kalten Biswind ähnlich weichen mussten. Ein steter Kampf von Schwere und Leichtigkeit, von Trauer und Hoffnung begannt sich zu einem Tanz zu verweben. Angezogen und weggestoßen, stolpernd über Stock und Stein, ein Auf und Ab der Gefühle. Abgestorbener Blätter gleich wirbelten die Akkorde durch den Raum, angeregt durch einen kalten Novemberwind. Zwischendurch glänzten einige wärmenden Sonnenstrahlen, die sich durch rasch dahin ziehende Wolkenfetzen geschlichen hatten.

So erging es auch dem jungen Mann, dem es leicht fröstelnd im bequemen Sessel dennoch weit angenehmer war als draußen in der kalten Novembernacht. Auch draußen wehte ein eisiger Novemberwind. Es herrschten Temperaturen wie um diese Jahreszeit schon seit Jahren nicht mehr. Der Nachthimmel war mit Millionen von Sternen besetzt, die glitzernd und funkelnd der Erde zu blinzelten. Die einen schwach und zart, die anderen stark und frech. Nur der Siebentagemond leuchtete heller mit seinem kaltblauen Licht. Die Temperatur unter dem Gefrierpunkt ließ einem im warmen Stübchen verweilen. Begleitet von gedämpftem Licht, das eine weiße Kerze ausstrahlte, schweifte sein Blick durch das Fenster, dessen Vorhänge weit geöffnet waren. Sein Blick verlor sich in die Unendlichkeit des Universums, hinaus in die weite Dunkelheit der Nacht. Schemenhaft schwarz zeichneten sich die fast kahlen Bäume vom leicht erhellten, funkelnden Sternenhimmel ab. Ab und zu schneite es vom Wind weggerissene Blätter am Fenster vorbei, die dann im weichen Licht der Kerze ihren goldenen, roten oder braunen Farben noch einmal kurz aufleuchten ließen, bevor sie sich ins Dunkle der Nacht verloren. Während er so zum Fenster hinaus schaute, tauchte ihm immer wieder dasselbe Bild vor Augen auf, das ihn innerlich fast zu zerreißen drohte. Trotz der zauberhaften Musik Rachmaninov’s, die aus den Lautsprechern seiner Musikanlage erklang, durchströmte ihn ein eisiger Hauch von Schmerz. Bis anhin hatten ihn beim Anhören dieser Musik seine Gedanken durch weite Wälder mit grünen Lichtungen, entlang an gurgelnden Bächen und hinauf in hügelige Voralpen geführt. Leuchtende Berggipfel mit schimmernd weißen Kappen aus ewigem Schnee, milde Lüftchen die die grünen Blätter der Bäume umspielen und Grashalme leicht wiegen liessen. Geschäftiges Treiben der Vögel in den Wipfeln von Tannen und Laubbäumen.

...Und jetzt ? er klebt am Türfenster des abfahrenden Zuges und versteht nicht warum dieser sich in Bewegung setzt ohne dass er sich von seiner Geliebten hätte verabschieden können. Viel zu früh, den Fahrplan nicht beachtend, begann der Zug sich in Bewegung zu setzten und erreichte binnen Sekunden eine Geschwindigkeit, die einem Herbststurm ähnelten. Ein entsetztes Gesicht, aus dem die dunklen Augen die er so liebt eine unverständige Traurigkeit ausstrahlen, war das letzte Bild seines überaus hübschen Mädchens, das in seiner Erinnerung haften blieb und sich mit seiner Hilflosigkeit verschmolz. All diese wenigen Sekunden reichten aus, sein Herz einfrieren zu lassen. Lange Sekunden, die Hände an der Scheibe, die Nase an der Scheibe, den Blick ins Dunkle der Nacht gerichtet. Wie Blitze zuckten ab und zu Lichter von Strassenlaternen und beleuchteten Fenstern vor seinen Augen auf, die sich mit heißen, brennenden Tränen zu füllen begannen und über seine Wangen den Weg in die Weite suchend, sich in der trockenen Luft des Eisenbahnwagens verloren.

Seiner Geliebten mochte es nicht besser ergangen sein. Zitternd stand sie da auf dem Bahnsteig, den Schatten ihres nicht minder schönen Jünglings im Gegenlicht des Türfensters, immer schneller die letzten erhellten Fenster des Zuges und dann das Schlusslicht, das sich rasend schnell im immer enger werdenden Schienenstrang in die Ferne verlor. Ihr Herz eingefroren, sekundengleich mit dem Herzen ihres geliebten...

Hoffnungsvoll und leicht erhebend erklangen nun die Akkorde und Töne des Soloklaviers, untermalt von Hornklängen und schwebenden Geigenstimmen, die einen sanft sich anfühlenden Klangteppich woben. Immer wieder aber verfochten sich kalte Winde unverfroren in diese sich harmonisierenden Klänge, vermochten aber nicht, das Eis zum schmelzen zu bringen. So heftig wie der Abschied ohne Abschied endete dann auch das Klavierkonzert. Gleich hüpfenden Rädern eines über Weichen rumpelnd Eisenbahnzuges zog es die Musik der unendlichen Ferne, abrupt und ohne Vorwarnung in eine unwirkliche Weite.

Diese klare und kalte Novembernacht aber verwandelte, untermalt von leichten Morgennebelchen, das kurze Gras der Wiesen und die abgefallenen Blätter, die über den Boden verteilt waren, in eine eiskristallzierende, frostige Schönheiten. Hier lagen sie nun, darunter auch Blätter in Herzform, überzogen mit einer feinen Schicht von erstem Novembereis. Als ob tausende Abschiedstränen auf dessen Ränder vergossen wurden, glitzerten diese kristallumrandeten kleinen, filigranen Kunstwerke. Sie konnten aber nur kurze Zeit ihren Reiz beibehalten, Sonnenstrahlen erwärmten im laufe des Morgens all diese Herzen und ließen das Eis schmelzen. Genau so wie die erwärmende Liebe dieser beiden Menschen das Eis ihrer gefrorenen Herzen auftauen wird.

© Hans-Peter Zürcher

1 Kommentar:

Rosanna Maisch hat gesagt…

Herzergreifende Erzählung



Einerseits sehr traurig und andrerseits hoffnungsvoll, herzerwärmend schön und bilderreich geschrieben, lieber Hans-Peter!

Liebe Grüße in dein Wochenende
von deiner Lyrikfreundin Rosanna